Briefe an Freunde, Tutujas (Norbert Schott)

Russland spendiert mir eine beleuchtete Skiloipe

07. November 2012

Wir haben 20 Zentimeter Neuschnee und knapp unter 0 Grad. Den letzten Gästen für diesen Herbst haben wir am Montag am Fluss zum Abschied gewunken, während sie ein geschäftstüchtiger Bootsbesitzer durch die Eisschollen schipperte.

Nun kehrt engültig Ruhe im Dorf ein. Während es die letzten Wochen noch Tagesbesucher gab, ist es nun richtig ruhig. Bis 12 Uhr war eine Motorradspur im Schnee zu sehen, bis zum Abend sind vielleicht vier Fahrzeuge im Dorf hin- und hergefahren.

Es war nicht immer so ruhig hier. Früher gab es im Tal des Flüsschens Tutujas fünf Siedlungen: Ust-Mrass nahe der Mündung des Tutujas in dem Tom - ein Dorf der traditionellen Ureinwohner, der Schoren. Tutujas 8 Kilometer nördlich - das größte Dorf im Tal, wo auch wir im Moment leben. Und drei Arbeitslager - Plotina ("Staudamm") bei Kilometer 4, Aksas bei Kilometer 20, Verchni Tutujas ("Oberes Tutujas") bei Kilometer 36.

Obwohl sich Moskau noch immer bemüht, die Straflager notfalls mit Nachwuchsmusikern zu füllen, wurden das letzte Lager im Tal hier bereits 1974 geschlossen. Der Grund ist einfach - die Lagerarbeiter hatten vor allem Bäume für Bauholz zu fällen, und die Bäume waren alle. Die Aufgabe der letzten Lagerarbeiter war es, das eigene Domizil zu demontieren, um es anderswo wieder aufzubauen. Deswegen sieht man heute kaum noch Spuren der Lager.

In Aksas und Plotina sind im Sommer noch einige Häuser als Datschen in Benutzung, das Stromnetz wurde aber schon vor Jahren gekappt. Verchni Tutujas wird nur noch als Ortsbestimmung genutzt, aber für die Fahrt dahin muss man mehrere Stunden mit geländefähigen Fahrzeugen einplanen. Nur Ust-Mrass und Tutujas sind noch ganzjährig bewohnt.

In Tutujas brummte einst das Leben.

Die Schule hatte 500 Schüler, es gab Zweigstellen mit weiteren Grundschulklassen in Ust-Mrass und Aksas. Die Schule wurde 1984 geschlossen, die letzten Kinder mussten auf die andere Seite des großen Flusses in die Schule, mit Internat. Das allerletzte Schulkind wurde vor sechs Jahren an Wintersamstagen noch mit dem Pferdeschlitten dort abgeholt. Inzwischen gibt es hier Kinder nur noch in den Sommerferien - und nun für ein Jahr unsere zwei Nachwuchswintersportler.

Das Dorf hatte drei Läden, wovon einer im Sommer noch als Kiosk Schokolade, Bier und Wodka anbietet. Es gab ein Kulturhaus mit Park - heute zeugen davon einige Pappeln, die unentschlossen in der Landschaft herumstehen. Es gab ein zweietagiges Kontor der Forstverwaltung, wo zeitweise bis zu zehn Buchhalter saßen - spurlos abgetragen. Es gab einen Hof mit über 20 Arbeits- und Reitpferden. Die Ärzte des Dorfes arbeiteten in einem Krankenhaus mit mehreren stationären Betten. Berufstätige konnten in einer Mensa essen. Alles spurlos verschwunden.

Aber Russland hat das Dorf nicht aufgegeben. Der Fortschritt hat das Dorf erreicht! Seit 2010 gibt es Straßenbeleuchtung! Während die Beleuchtung der Novosibirsker Skiloipen seit Jahren defekt sind, konnte ich heute im Laternenschein den Schnee genießen. Jemand anderes war übrigens nicht zu erblicken. Wer auch?!