Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

monstration ohne De

03. Mai 2004

Ein langer Traum ist in Erfüllung gegangen. Ich bin auf eine Demo gegangen, einfach mit einem Plakat "Ich bin dagegen!" - und das auch noch am ersten Mai in der großen Sowjetunion! Anlass war folgender Aufruf in der Novosibirsker Künstler-Mailingliste: 

liebe freunde! die künstlergruppe SAT lädt alle zur streetparty in! am 1. mai findet zusammen mit der gewöhnlichen demonstration unsere monstration statt!

wenn wir die auftritte der politiker hören, wenn wir protestaktionen sehen, wenn wir wählen gehen dürfen - dann haben wir stets den eindruck, dass alles nur eine theaterveranstaltung ist. wir nehmen an dieser totalen show teil - wenn wir ins konzert gehen, abendbrot einkaufen oder fernsehen. unsere fünf sinne sind die grundlage, auf die die konsumgesellschaft aufbaut.

am 1. mai gehen wir mit den losungen auf die straße, die uns und unsere gefühle propagieren! eingezwängt in den körper der gewöhnlichen demonstration monstrieren wir allen, dass es unmöglich ist, auf dem markt alles zu verkaufen.

am 1. mai werden wir den feiertag unserer emotionen und der gefühle feiern, und zwar in einer art, wie sie niemand kaufen kann! am 1. mai verkünden wir die freiheit des schaffens und das recht eines jeden auf schöpferische werk und schöpferische erholung!

es ist an der zeit, unserer stadt eine kunst-injektion zu verpassen! :)) jeder teilnehmer wird traditionelle rot-weiße plakate mitbringen, auf denen seine emotionen und gefühle geschrieben sind: "A-a-a-a-ach!!!", "O-o-o-o-och!!!?, "M-m-m-m-mm!!!", "A !!?", "Och!!!", "Ey!", "Jo!". oder auch: "Sehr gut!". oder irgendein abrakadabra: "HGFZBDJTDAZ JBFAJS!!!", "B....JBA! >> ;;:? *78 110010010001110!!!", oder "Zehr gut!" [stand deutsch da], "FUCKING GREAT"! 

vielleicht auch das gegenteil: "Buuuh!? oder einfach ein portrait mit ausrufen: "HURRA!..............!", "GUT!", "ENTZÜCKEND!", "UNVERGLEICHLICH!", "...!? [für diverse wörter im russischen gibt es kein pendant, so für "blja!"] sei einfach gar nichts geschrieben - leere, vielfarbige transparente!

fantasie wird begrüßt! alle politischen losungen und losungen, die einen sinn haben, werden abgelehnt! je weniger sinnvoll, desto monstrativer! bekleiden sie sich grell und ungewöhnlich, bringen sie musikalische werkzeuge mit: trompete, tröten, trommeln, pfeifen, büchsen an stricken - alles, was sie originell und interessant finden! 

wenn sie nichts zum mitbringen haben, kommen mit leeren händen, bei uns gibt es immer ein transparent für sie! auf beliebige fragen der presse (und nicht nur der presse), antworten sie einfach: das ist eine monstration!


So schien also die Sonne am ersten Mai und alle spazierten den Prachtboulevard entlang. vorn der vergreiste Fanclub Stalins (2000 Genossen), gefolgt von Schirinowskis Anhängern (100 Weltverbesserer) und den bolschewistischen Nationalisten (40 Kurzgeschorene in Dreierreihe, "Mein Kampf" in der Brusttasche) und ganz hinten wir (50 konzeptionslose Chaoten).

Auf 2140 Demonstranten kamen 10 Journalisten, auf 50 Monstranten 50 Reporter. Das Verhältnis zur Staatsgewalt war sehr gespannt, angesichts der vielen Kameras beschlagnahmte man aber nur das Plakat "Ui-ui-ui!" mitsamt Monstranten. "Irgendwie so!", "Aaaaah!" und so weiter durften bis zum Leninplatz marschieren.

Sehr lustig jedenfalls, und selten im intellektuell armen Russland.

Der andere Höhepunkt der vergangenen Wochen war eine Geburtstagsfeier. Wir hatten entdeckt, dass man für 10 Euro pro Stunde einen O-Bus mit Fahrer, Wachpersonal und Barfrau mieten kann. Die Fahrroute ist frei wählbar - entlang aller existenten Oberleitungen, versteht sich. Der Bus hält an, wo man will, und sei es, um am Straßenrand neuen Wein zu kaufen. Und so sind wir im O-Bus drei Stunden durch das nächtliche Novosibirsk geheizt und haben das Leben genossen. Auch sehr lustig.

Im Wohnheim ging die Feier weiter. Leider in dem Wohnheim, in dem ich morgens nicht sein darf. Abends im Trubel reinschleichen war einfach, morgens mit einem Kater rausklettern nicht ganz so. Gestern habe ich festgestellt, dass es bis zu dem Fenster tatsächlich vier Meter waren. Aber der Architekt hat mitgedacht und die Ziegel versetzt Mauern lassen ...