Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Kleinigkeiten

20. Juni 2004

Die Pappeln haben gesiegt! Man erinnere sich: um dem Pollenflug in der Stadt ein Ende zu bereiten, wurden in ganz Novosibirsk die Pappeln am Straßenrand auf vier Meter Stamm gestutzt, verbleibende Äste wurden abgesägt. Doch es hat nichts genutzt, wie jedes Jahr schneite es auch 2004 wieder lustige weiße Flocken von in Höfen versteckten Pappeln. Mitten im Sommer war Novosibirsk wieder weiß.

Auch die Temperaturen sind wieder wie im Winter, nur ohne Minuszeichen. Seit sechs Wochen haben wir ununterbrochen über 20 Grad, meist 25 bis 35. Das macht gute Laune, diese muss man allen verbreiten. Die Leute reißen die Fenster auf, stellen Lautsprecher aufs Fensterbrett und beschallen die Straßen mit Musik ihrer Wahl. Strom kostet privat ja fast nix. Wenn man Glück hat, bekommt man Klassik zu hören, aber manchmal brüllt es auch "Du rrrriechst so guuut!" über den Boulevard. 

In den letzten Tagen war hier wieder einmal ein Beispiel russischer Improvisation zu sehen, zugleich ein Schmankerl für alle Verkehrsingenieure: nach der Frostperiode werden die Straßen geflickt, so fuhr eine Straßenbahnlinie nur auf Teilstücken. Leider gab es keine Wendeschleife, so schickte man auf jedes der zwei Gleise einen Straßenbahnzug. Jeweils zwei Bahnen wurden an der Rückseite zusammengekoppelt und fuhren auf einem Gleis hin und her.

Damit mussten 50 Prozent der Fahrgäste auf der falschen Seite ein- und aussteigen - also im ersten Wagen auf der rechten Seite, im zweiten auf der linken. Der Fahrer im vorderen Wagen konnte jedoch die Türen im hinteren nicht zumachen - weil er sie mangels Spiegel nicht sieht. Also saß auch dort noch ein Fahrer, der die Türen bediente und dann per Klingelzeichen die Abfahrt ankündigte.

Ferner: in 50 Prozent der Fälle fuhr die Bahn natürlich auf der falschen Straßenseite. Damit die Autos das bemerken, hatte man ausnahmsweise das Licht angemacht. Das zeigt eine echte Besonderheit, da sonst auch nachts stets ohne Licht gefahren wird. Hier kostet Strom scheinbar etwas.

Damit war aber noch nicht alles gelöst. Auf halber Strecke kreuzt der Trolleybus die Bahn, was technologisch kompliziert ist - spezielle Oberleitungskreuzungen sind notwendig. Diese sind dafür ausgelegt, dass die Bahn auf jedem Gleis nur in eine Richtung fährt. Nun fuhr sie ja aber in beide. Also musste noch ein Techniker mit, der pro Runde einmal zum Einsatz kam: vor der Kreuzung verlies er die Bahn. Die Bahn fuhr mit Schwung auf die Kreuzung und der Techniker hängte sich mit vollem Körpereinsatz an ein Seil, welches den Stromabnehmer kurz herunterzog. Hinter der Kreuzung sprang der Techniker wieder in die Bahn.

Schienenersatzverkehr geht in Novosibirsk nicht, denn die Busse gehören zu einem anderen Depot als die Straßenbahnen und da lässt sich einfach nichts machen.

Ich werde mich nun wieder meinem Diplom zu Verkehrskonzepten in Novosibirsk widmen. Punkt 1: eine einheitliche Zentrale für alle Verkehrsmittel.