Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Frühjahrsdreck

06. April 2004

Matsch, Dreck, Schlamm ... es ist Frühling in Sibirien! Nach erneutem Wintereinbruch Ende März mit bis zu minus 30 grad (nachts) taut nun alles weg. Plötzlich kommt all der Müll zu tage, der nach jeder verschneiten Nacht weggeräumt schien. Plötzlich haben die Straßen wieder Schlaglöcher. Und plötzlich bleibt meine Winterjacke im Schrank, plus vier grad sind sommerlich und mir reichen Pullover. 

Man muss sich schnell umgewöhnen im sibirischen Frühling. Vorgestern waren die Straßen matschig, die Fußwege noch gefroren. Gestern wurden auch diese unpassierbar, aber abseits der Wege konnte man noch gehen. Heute versinkt man auch dort tief im Schlamm, aber die Straßen sind schon getrocknet. Fatal ist nur, dass es Stadtgebiete mit netten alten Holzhütten gibt ... dort sind Straßen, Fußwege und Grünstreifen (Graustreifen?) ein und dasselbe: schlammiger Dreck, zentimetertief. Haben Russen Schwimmhäute?

Meine Diplomarbeit kommt voran, nebenbei war ich noch in Moskau und Omsk, für eine neuerliche Studentenkonferenz. Es ging - wie sollte es bei mir anders sein - um Verkehrsökologie. Wir hörten erstaunliche Vorträge ("Vergleichende Bewertung der Berechnung der Menge der Produkte der Verbrennung des Treibstoffes in Fahrzeugmotoren") in erstaunlichem englisch (die Gesellschaft muss acht geben: "sesossitimasttekare"). Zum Glück hatten wir für die späteren Runden Tische dolmetschende Sprachstudenten organisiert, so dass ich inzwischen tatsächlich ein deutsch-russisches Handbuch über Verkehrsökologie layouten kann.

Leider war zu diesem Zeitpunkt noch kein Frühling, es gab noch viel Eis auf den Wegen ... und zum Glück war Marlen Allianz versichert ... ein dreifacher Beinbruch ermöglichte uns tiefe Einblicke ins russische Gesundheitswesen. Stufenfreie Arztpraxen? Englischsprachige Ärzte in einer Millionenstadt? Ein Rollstuhl auf dem Flughafen? Alles Fehlanzeige. Im Ausgleich dafür gab es immerhin schöne, riesige Betäubungsspritzen, einen sehr stabilen Gips und wie immer alles kostenlos! Und die Allianz hat einen netten, wenn auch schmerzhaften, Rückflug in die Heimat bezahlt.

Hier in Novosibirsk habe ich meine Bleibe gewechselt, wohne nun wieder in einer WG. Das gibt es sehr selten, so muss man auch mit einer etwas eigenartigen Mitbewohnerin vorlieb nehmen können. Aber die gelegentliche Einsamkeit war mir doch zu anstrengend. 

Nachdem ich von allen Funktionen bei der Dresdner Hochschulzeitung "ad-rem" zurückgetreten bin, mache ich nun bei der Novosibirsker "studentscheski gorod" Karriere. Unter maßgeblicher Beteiligung von Ksenia und meiner Russischlehrerin habe ich es schon auf vier Artikel gebracht, als Krönung durfte ich am ersten April über die mode der russischen Schönheiten lästern. Auf der Straße den dicken Pelz und im Wohnheim die hässlichsten Bademäntel der Welt ... nee nee nee!