Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Altes Neues Jahr

13. Januar 2005

Nach altem russischem Kalender leben wir noch im Jahr 2004, heute Abend feiert man in Russland also "Altes neues Jahr". Einen Feiertag gibt es dafür nicht extra, aber davon hatten wir ja in der vorletzten Woche genug.

Denn der russische Staat hatte seine Drohung wahr gemacht und am Jahresanfang tatsächlich sechseinhalb staatliche Feiertage platziert. Zusammen mit vier Wochenendtagen machte dies zehneinhalb freie Tage. Fast alle Geschäfte hatten offen, doch wer arbeiten wollte, war ohne Chance: Banken - geschlossen. Versand für Büromaterialien - geschlossen. Zoll - geschlossen. Kurierdienste - mangels Zoll nicht arbeitsfähig. Die Volkswirtschaft ein Drittel des Monats einfach stillzulegen - das kann sich wohl wirklich nur Russland leisten.

Der Clou: selbst die Russen wussten nicht, was sie nun mit der Zeit anfangen sollten. Klar, sie verstehen es zu feiern. auch zehn Tage - nur richtig feiern kostet auch richtig Geld! Und das war scheinbar nach vier Tagen bei vielen Familien alle. In allen Fernsehkanälen liefen Interviews mit frustrierten Russen, die keine Ideen mehr hatten, wie man ohne Geld - also ohne Wodka (?) - noch feiern könne.

Seit Dienstag, 11. Januar, wird wieder gearbeitet. In Nowosibirsk nicht ganz ohne Einschränkungen - denn vorgestern kam Putin zur Visite nach Sibirien. Entlang seiner Fahrstrecke - quasi im ganzen Stadtzentrum - herrschte Parkverbot, angeblich wurden sogar Metrolinien unter seiner Route zeitweise stillgelegt. Natürlich wurde überall noch einmal extra Schnee geschippt und auf dem Weg in die zu besichtigenden Außenbezirke der Stadt wurden die Zäune neu gestrichen - bei Minusgraden!

Aber auch für das einfache Volk wird das Reisen angenehmer gemacht. Gestern bin ich mit einem Vorortzug zu Ksenias Verwandtschaft gefahren - plötzlich ertönt sehr blechern schwere Chormusik und eine eigentlich sanfte, durch die Lautsprecher jedoch kratzige Stimme erklärt uns: "Wenn Sie jetzt aus dem Fenster sehen, sehen Sie die Kreuze für den heiligen ...! Wir wünschen Ihnen eine gesegnete Fahrt, Gott sei mit Ihnen!" Noch mal Musik und aus. Religion ist Opium fürs Volk.