Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Winter in Moskau

18. Januar 2003

Rund vier sind seit dem letzten Brief vergangen, vier sehr sehr turbulente Wochen. 

Zuerst war mein Geburtstag. Aus unerfindlichen Gründen waren die Bürokraten im Wohnheim einmal gänzlich unbürokratisch, gaben mir den Schlüssel für den Partyraum, genehmigten in dieser Nacht das kostenlose Übernachten für Freunde (sonst vier Euro pro Nase) und ließen sogar (für drei Stück Kuchen) um zwei Uhr nachts - also 60 Minuten nach der Sperrstunde - noch den verspäteten Besuch aus Deutschland ins Wohnheim. Die Nacht war endlos, irgendwann breitete sich die Stimmung dann auf die ganze Etage aus - in drei Zimmern, auf dem Gang und vor den Fahrstühlen wurde gefeiert, gesungen und getrunken. Zwischendurch gab es noch eine Mehlschlacht - dementsprechend weiß sind alle Menschen auf meinen Fotos. Das ganze war dann nur dumm, als wir am nächsten morgen aufräumen mussten ... 

Das deutsche Weihnachten war etwas geruhsamer. Mit meiner Mutter haben wir ein wenig gekocht, später haben wir uns zu den Studenten aus Bochum gesellt, die gerade im Wohnheim weilten. Den Russen war das natürlich alles etwas schleierhaft - am 24. ist hier Prüfungsvorbereitung, sonst nix. Allenfalls am 25. schenken sich Freunde gelegentlich etwas, aber wahrscheinlich auch mehr, weil es das Fernsehen so will. 

Richtig los geht es dann am 31. - Neujahr! Da isst man in der Familie, da gibt es ein paar Geschenke, da wird viel getrunken und gefeiert. Ich habe erst bei Olia mitgegessen, zum Feiern in diesem Hause fehlte aber die Zeit. Denn ich wollte ja mit Anja sowie Thea - den Lieben aus Dresden - und natürlich auch mit Olia auf den Roten Platz. Es ist einfach ergreifend, bei minus 30 Grad ein Feuerwerk über dem Kreml zu sehen und zwischen den aus Sicherheitsgründen aufgereihten Soldaten zur Musik zu tanzen! Dazu der Schnee und die langsam einfrierenden Getränke ... (ja, auch Wodka-Cola kann frieren!) 

Die christlichen Russen feiern dann in der Nacht vom 6. zum 7. ihr Weihnachten - wohlgemerkt nicht, weil wir da die Drei Heiligen Könige haben, sondern weil das nach dem alten Kalender die Nacht nach dem 24. ist. Wir haben uns das Ganze in einer Moskauer Kirche angeschaut - viel Weihrauch, viel Gesang, viel Nachdenklichkeit. Geschenke gibt es hier allenfalls für Gott. 

Und weil es sich so gut feiert, darf man in der Nacht vom 13. auf den 14. auch nochmal zu Tische bitten - das ist dann logischer weise das alte Neujahr. Wieder in Familie, wieder mit Speis und Trank! 

Mit Anja, Thea, Siegfried und Christian ging es dann kurz nach Silvester auch noch auf Olias Datscha - eine stunde im Vorortzug von Moskau entfernt. Ofen anheizen, Gitarre auspacken, Essen kochen und gemütlich Spaß haben - und das Alles mitten in der Natur, mitten im hohen Schnee. Zur vorgerückter Stunde wartete dann auch noch die Banja (Sauna) auf uns - inklusive Abkühlen im Schnee. 

Gereist bin ich natürlich auch wieder, diesmal war ich zusammen mit Olia in Pskow und Nowgorod - zwei uralten Städten im Norden Russlands. Wieder einmal konnte man sich erholen vom Dreck Moskaus, vom Verkehr, vom Stress der zigmillionen Menschen. Stattdessen gab es wiederum viel Schnee; ein Kloster mit Felsenkirchen; einen Alten der mit uns spontan mitten durch den tiefsten Schnee stapfte, um sein Dorf zu präsentieren; viele Kirchen und Museen; und überhaupt eine schöne Zeit mit Olia. Das einzige Problem war natürlich die Kälte ...

... Dieses mal haben die deutschen Medien also wirklich nicht übertrieben. In Pskow waren es nachts minus 35 Grad, tagsüber minus 27. Wir saßen eineinhalb Stunden im ungeheizten Bus - danach habe ich meine Füße und Beine nicht mehr gespürt. Mein Gesicht wurde nach einigen Tagen ganz rauh, an mehreren Stellen (Knie, Gelenke) ist die Haut beim kleinsten Stoss aufgerissen. Selbst im Hotel - dem besten in Pskow - wurden die Zimmer nicht mehr wärmer als 15 Grad. Da kuschelt man sich ins Bett, schaltet den Fernseher an und denkt über die tausenden Leute nahe Petersburg nach, bei denen die Heizung total ausgefallen war. 

Aber das Wetter hat auch schöne Seiten. Diese Woche waren wir beispielsweise im Gorki-Park von Moskau - ja, der von den Skorpions "... down to Gorki-Park ..."! Dort hat man alle Wege in Eisflächen verwandelt und im Schein der Laternen kann man nun endlos Schlittschuh laufen! Außerdem verwandelt der Schnee selbst das dreckigste Moskau für einige Tage in eine weiße Märchenlandschaft - das merkt man jetzt, wo es wieder warm, also ein Grad, geworden ist! 

Der Schnee ist ausserdem ein lustiger Arbeitsbeschaffer in Moskau. Was es da alles für Aufgaben gibt! Männer mit Schaufeln schieben den Schnee von den Fußwegen auf die Straßen, Männer auf Kehrmaschinen - klassische Schneeschieber sind bei den unebenen Straßen nicht einsetzbar - kehren alles wieder zurück. Entlang der Straßenbahntrassen werden Frauen aufgestellt, die die ganze Zeit den Schnee aus den Weichen kratzen, den die Autos da reindrücken. Und nach ein, zwei Tagen kommen dann große Bagger und Laster, die den ganzen Schnee verladen und zu den Schneemelzungsanlagen (!!!) fahren. 

Eine Prüfung stand in den letzten Tagen bei mir auch noch an, "Eisenbahnstationen und -knoten". Mühevoll hatte ich mich durch 100 Seiten im Fachbuch gequält, wusste nahezu alles über Bahnhofsarten in Russland. Und wofür?! Zwei Fragen zum Thema und eine halbe Stunde Smalltalk über Straßenbahnen in Dresden und Berlin. Das anstrengendere war dann wohl das Organisieren des Stempels für die Bestätigung des "ausgezeichneten" Prüfungsergebnisses. Da muss also erst der kleine Professor (Zimmer I) unterschreiben, damit der große (Zimmer II) weiß, dass das, was er unterschreibt, auch stimmt. Die Unterschrift des Großen berechtigt wiederum die Frau mit dem Stempel (Zimmer III) zum Stempeln, was aber wiederum nachträglich registriert (Zimmer IV) werden muss: Wer hat wann einen Stempel auf welchem Blatt von welchem Institut bekommen und wer hatte vorher alles unterschrieben. Das kann man nun wahrscheinlich noch jahrelang in den scheinbar endlosen Archiven der Uni nachschlagen. 

Und nebenbei findet man dann bestimmt auch noch einen witzigen Briefwechsel. Da ich im Februar einen Monat in Sibirien Praktikum machen möchte, bat Moskau vorgestern Omsk um ein Schreiben, dass Omsk meine Registrierung übernehmen möchte. Daraufhin wird Moskau ein Schreiben an Omsk aufsetzen, dass es meine Registrierung abgibt. Ich werde dann drei Stempel in den Pass bekommen - Registrierung abgeben, Registrierung übernehmen und die Registrierung selbst. Vier verschiedene Gebühren müssen einzeln von mir auf einer Bank eingezahlt werden, dazu muss ich sechs Passbilder abgeben. Und in vier Wochen spielen wir das Ganze dann nochmal durch, denn dann will ich ja wieder zurück und Omsk wird Moskau um einen Brief bitten, dass ... 

Übrigens hängen seit einer Woche Shampoo-Plakate mit Verona Feldbusch in der Moskauer Metro! P.S.: Welche lustigen Wörter in der russischen Sprache habe ich eigentlich noch nicht erwähnt?! Gastarbaiter, blizkrig, ...