Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Nachdenkliche Fahrstühle

15. September 2002

Gleich zu Beginn die aktuelle Lage bei den Fahrstühlen. Nummer eins funktioniert, nur die Tür braucht immer ein wenig, bis sie sich schließt. Unsere Russischen Freunde meinten: "Der Fahrstuhl denkt noch ein wenig nach." Nummer zwei ist seit zwei Tagen auf "Etage –-", wo auch immer das ist. Nummer drei und vier laufen. Fünf und sechs habe ich länger nicht in Bewegung gesehen, kann aber Zufall sein. 

Inzwischen haben wir festgestellt, dass es mehrere Vorteile hat, nicht im Zweiten (ehemalige Ausländeretage) zu leben. Erstens trifft man dort weniger Russen. (Man muss auch nicht die Etage wechseln, weil die Küche gerade saniert wird.) Zweitens wird diese Etage schon um Elf abgeschlossen. Und drittens spürt man unten deutlicher die Entsorgungsprobleme im Wohnheim: Abends fliegt der Müll am Fenster vorbei - kein Russe nutzt während einer Party den Mülleimer. Und auch der Müllschlucker entpuppt sich im Umkreis von zehn Metern als stinkendes Fallrohr - bis zu uns nach oben gelangt der Gestank des Sammelraums glücklicherweise nicht. (Dieser Sammelraum muss übrigens täglich von den armen Wachsoldaten mit Schaufeln geleert werden - beim Bau des Hauses kam scheinbar keiner auf die Idee, dass es praktischer wäre, gleich einen Container in die Kammer zu stellen.) 

Seit Freitag wird in unserer Küche wieder gebaut, scheinbar hat man auf einmal festgestellt, dass ja schon ab morgen die Küchen über und unter uns im Bauplan stehen! So saßen auf einmal nachts um Elf Fliesenleger hier rum. Es wird also richtig schick hier! 

Gestern Abend hat man mir einen Park um die Ecke gezeigt - es gibt sie wirklich, die schönen Ecken in Moskau. Das allgemeine Stadtbild ist leider ziemlich grau - auch wenn täglich alte Frauen das Laub auf dem Dreck zusammenkehren und verbrennen. Es fehlt einfach grün. 

Und alles wirkt ein wenig heruntergekommen. Vor dem Haus rumpelt eine Straßenbahn entlang. Diese fährt zur Metro - man könnte sich also theoretisch 15 Minuten Fußweg sparen. In der Praxis läuft man aber doch. Denn erstens weiß man nie, wann eine Bahn kommt - außer der ersten Bahn um Fünf ist hier alles Zufall. Und zweitens kriecht die Bahn derartig über die maroden Schienen, dass man kaum noch schneller ist. Aus der Sicht des Verkehrsingenieurs ist es ein Wunder, dass es technisch überhaupt noch möglich ist, Bahnen auf diese verbogenen Stahlträger zu setzen. 

Das ganze Gegenteil ist übrigens noch immer die Metro. Unglaublich schick, sauber und zuverlässig. In den Hauptzeiten vergehen zwischen zwei Zügen ganze 30 Sekunden, selbst kurz vor Mitternacht wartet man maximal drei Minuten. Wie das logistisch organisiert ist, ist ein anderes Rätsel für den kleinen Verkehrsingenieur ... 

Unglaublich sind natürlich die Preise. Während Lebensmittel kaum billiger als bei uns sind, kostet eine Fahrt mit der Straßenbahn, dem Bus oder dem Trolleybus 13 Cent, mit der Metro 17 Cent. In den Bahnen fahren keine Schaffner mit, also fahren alle schwarz. Kommt ein Kontrolleur, ärgert sich dennoch keiner - die strafe ist 33 Cent. (Im Oktober werden die Preise um ein Drittel angehoben.) 

Am Freitag haben wir den Moskauer Raubkopierermarkt aufgesucht. Wer sich nun einen verruchten Park mit obskuren Gestalten vorstellt, irrt. Es handelt sich um ein riesiges Haus - etwa zwei Karstadt-Etagen. Dort gibt es fein sortiert alles nur irgendwie Erdenkliche: Software, DVDs, Videos, ... - was nicht rumliegt, kann auf Anfrage besorgt werden. der Clou ist die Musikauswahl. Man muss sich auch nicht mehr für die CD "Clandestino" von "Manu Chao" entscheiden, sondern man nimmt gleich die MP3-Sammlung mit allen Alben von "Manu Chao" und "Mano Negra" auf einer CD. Klasse Qualität, inklusive Texte und Cover auf der CD. Der Spaß kostet weniger als drei Euro. Nach zehn CDs mussten wir uns mit Scheuklappen aus dem Gebäude zwingen! (Und ich habe praktischer Weise auch einen MP3-Player mit.) 

Gestern tagsüber hat uns Rolf ein Kloster in der näheren Umgebung gezeigt - war sehr beeindruckend. Die Deutschen haben die ganze Anlage beim Rückzug 1941 verwüstet - bis heute ist vieles nicht wieder saniert. Nach ein wenig Umherschauen sind wir in den nahe gelegenen Park und haben ein Lagerfeuer gemacht. ... heute ist wieder richtig mächtig Smog hier ... wir haben unser Feuer aber garantiert ausgemacht! 

Ach ja, noch was Neues: Wenn man am Stecker vom Kühlschrank wackelt, leuchten die schon eingehend beschriebenen Nachttischlampen kurz auf. ?!?!