Briefe an Freunde, Aktuelles aus Novosibirsk (Norbert Schott)

Mutlose Flucht vor den Problemen des Friedens

15. März 2014

Ein Land in Europa zerfällt, und keiner will es gewesen sein. Die Russen beschützen nur ihre Brüder, Europa schützt nur die Demokratie. Und keiner weiß, wo die Wahrheit liegt.

Natürlich bin auch ich der Meinung, dass der wohl inzwischen unvermeidliche Anschluss der Krim an Russland ein fatales geopolitisches Spiel auf dem Rücken eines entmündigten Volkes ist. Eine ungeheuerliche Provokation Russlands. Aber es fällt mir schwer, diese Meinung im russischen Freundes- wie Kollegenkreis mit Argumenten zu untermauern.

Denn wenn man die Vorgänge in der Ukraine in den letzten Wochen so anschaut, so gibt es nur ein einziges Argument: Eine Abtrennung von Teilen der Ukraine ist weder in der ukrainischen Verfassung noch im Völkerrecht vorgesehen.

Alle Kollegen und Freunde - viele sind gut informiert und schauen nicht nur das glorreiche staatliche Fernsehen - sind überzeugt: Die Bewohner der Krim sollen selbst abstimmen, wozu sie gehören möchten. Und wenn sie sich für Russland entscheiden - dann ist es ihr gutes Recht. Wenn in Kiew der Präsident verfassungswidrig abgewählt wird, so müsse sich auch die Krim nicht mehr an diese Verfassung halten.

Viele Russen halten es für richtig, dass Russland nicht auf Deutschland hört. Denn vor drei Wochen blieben Aufforderungen des russische Außenministers Sergej Lawrow an Frank-Walter Steinmeier ungehört: Statt die Kontakte zum Maidan zu nutzen und eine Einhaltung des Friedenabkommens und der Verfassung zu gewähren, schaute man dem sofortigen Putsch gegen Wiktor Janukowitsch entspannt zu. Auch als die neue (entgegen dem Abkommen einseitig besetzte) Regierung mit Beschlüssen gegen die Sprachvielfalt Öl ins Feuer goss , kamen keine mahnenden Worte aus Berlin, Warschau oder Paris.

Und ganz Russland ist sich sicher: Wenn der Maidan von Amerika finanziert war - einige Quellen mögen dies belegen -, dann kann, ja soll, Russland ruhig die Selbstverteidigung der Krim unterstützen. Man könne sich ja nicht alles gefallen lassen.

Natürlich spielt hier verletzter Stolz eine große Rolle. Verletzter Stolz darüber, dass sich zuvor weite Teile der Ukraine von Russland abgewendet haben - wegen ein paar hohlen Versprechen aus Europa, wie einer wirtschaftspolitisch zweifelhaften Annäherung an die EU. Verletzter Stolz darüber, dass man in Kiew während der durch die Olympiade erzwungenden Pflicht zur Zurückhaltung von europäischen Diplomaten überrumpelt wurde.

Man ist überzeugt, dass nur Russland Stabilität und Ordnung garantieren kann. Nirgends in der Ukraine geht es im Moment so ruhig zu, wie auf der Krim - da ist man sich sicher: cs413026.vk.me/v413026135/8cd7/RX6LNteM94U.jpg ("Freies Kiew / Okkupierte Krim"). Leider hinterfragt niemand, ob es ohne Einfluss jeglicher Schutzmächte (Europa in Kiew, Russland in Simferopol) nicht noch ruhiger sein könnte! Man ist schlicht davon geblendet, dass man irgendwo noch gemocht wird. Und welchem Volk schmeichelt dies nicht?

Und erst Recht angesichts der Tatsachen, dass die Krim 300 Jahre lang russisch war, mehrheitlich russisch bewohnt ist und bis heute einen der wichtigsten russischen Flottenstützpunkte beherbergt. Und dies hat "der Westen" scheinbar unterschätzt: Selbst wenn Russland die Ukraine an die EU und NATO verliert, einen amerikanischen Vorposten auf der Krim würde man niemals hinnehmen. So, wie die USA mehrfach in Südamerika eigene politische Interessen durchgesetzt hat, ist die Krim für Russland unverzichtbar.

Am ehesten kann man Russen aktuell noch mit Verschwörungstheorien aus der Reserve locken: Hat vielleicht Putin bewusst Janukowitsch fallen lassen, damit Russland unter dem Argument des Chaos' die Krim annektieren kann? (Immerhin ist es schon verwunderlich, wie schnell die 10.000 Selbstverteidiger in neutralen Uniformen bereit waren.) Oder wollte Putin zeigen, dass eine Revolution nur zu Chaos und dem Zerfall eines Landes führt? Oder wurde vielleicht der ganze Konflikt von Amerika initiiert, damit die europäisch-russische Freundschaft ins Wanken gerät und Eurasien nicht zu stark wird?

Kleine Hoffnungsschimmer, dass es in diesen Wochen noch vernünftige Menschen gibt, die sich nicht durch Kriegstreiberei auf beiden Seiten blenden lassen, habe ich dennoch. Unbekannte hatten an der Staatlichen pädagogischen Universität in Novosibirsk drei Banner aufgehängt:

"Krieg ist ein Verbrechen, welches durch den Sieg nicht gesühnt wird. (Anatole France)" [frei übersetzt]
"Waffen außerhalb des Landes haben wenig Wert, wenn zu Hause keine Vernunft herrscht. (Cicero)" [frei übersetzt]
"Krieg ist nur eine mutlose Flucht vor den Problemen des Friedens. (Thomas Mann)"

Die fünf beliebtesten Kommentare unter einem Artikel, welcher sich natürlich vorrangig den polizeilichen Ermittlungen zu diesen Plakaten widmete, stimmten den Zitaten vollkommen zu. Immerhin.